Punk in West-Europa war ein popkulturelles Phänomen mit politischen Ursachen. Punk in der DDR dagegen war ein politisches Phänomen mit popkulturellem Hintergrund. Als 1979 die ersten Punks in Ost-Berlin und Leipzig auftauchten, war dies keine Reaktion von sozialen oder künstlerischen Randexistenzen auf eine satte Konsumgesellschaft. Es war die Reaktion auf eine Mangelgesellschaft, welche nicht nur materiell, sondern auch mit elementarsten Freiheiten unterversorgt war. In der DDR war es keine Frage der Herkunft oder des unfreiwilligen sozialen Abstiegs, ein Außenseiter zu sein, vielmehr glich es einem Akt des Widerstandes, sich als Individuum in einer zwangskollektivierten Gesellschaft zu erkennen zu geben und zu behaupten. Die Punks in der DDR versuchten, die Grenzen eines Systems zu überwinden, welches seine Jugend steuern wollte, von dem sie sich aber nicht lenken ließen.

Dabei ging es zunächst nicht um eine Radikalisierung des Rock'n'Roll, also um eine neue Form der Musik oder um expressivere Ausdrucksformen in der Kunst. Vielmehr riskierte jeder Punk in der DDR alles, daher nicht nur seine Gegenwart, sondern, z.B. mit 16 Jahren, auch seine gesamte Zukunft. Also neben der Familie die Schulausbildung, die Lehrstelle, den Beruf, von einem Studium ganz zu schweigen. Berufslosigkeit aber bedeutete in einem "Arbeiter- und Bauernstaat" nicht etwa ein geduldetes Leben am Rande der Gesellschaft, sondern die Verfolgung als "asoziales Element" und nicht selten Haft in einem der DDR-Gefängnisse. In dem Maße, in welchem sich die Repressionen nicht nur auf die unmittelbare Zukunft, sondern lebenslänglich auswirkten, war die Gefährdung der eigenen Person gewissermaßen eine ganzheitliche. Die Freiheit des Einzelnen war im Zweifelsfall nicht einklagbar. In der DDR konnte ein Punkrocker keine Karriere als Popstar machen. Eine DDR-Punkband spielte ohne Aussicht auf größeren, vielleicht auch kommerziellen Erfolg. Sie spielte mit der Gewißheit ihrer Verfolgung und unter Umständen für eine drastische Gefängnisstrafe.

1979/80 war das erste Auftauchen von Punks in der sozialistischen Scheinidylle nur mit der Landung Außerirdischer zu vergleichen und kaum zu übetreiben. Im toten Winkel Mittel-Europas war der DDR-Jugend lediglich die Rolle als "Kampfreserve der Partei" zugedacht. Der tabellarische Lebenslauf einer systemtreuen Biografie schrieb die obligatorischen Lebensstationen Pionier, FDJ, NVA und Entlassung in die sozialistische Produktion fest. Und war es nicht die Produktion, so war es ein Studium, das, unabhängig vom Studiengang, immer auch ideologisch ausgerichtet war. Mehr hatte der durchschnittliche Werktätige nicht zu erwarten. War man nicht entzückt von den aufgedrängten "sozialen Errungenschaften" und nicht bedingungslos dankbar für einen sicheren Kindergartenplatz, eine sichere Ausbildung, einen sicheren Arbeitsplatz, einen sicheren Frieden und all das in sicheren Grenzen, so war man am Ende sicher vor sich selbst - im Jugendwerkhof, im Gefängnis, in der Armee oder durch die Disziplinierung seitens der Staatssicherheit. Das Ministerium für Staatssicherheit war der kongeniale Ausdruck einer zum Fetisch erhobenen Sicherheit, welchem die soziale Überversorgung in der DDR als Totschlagargument gegen den Vorwurf einer Unterversorgung an Grundrechten diente. In ihrem korrupten Verständnis von Geben und Nehmen, setzten die Parteifunktionäre eine Dankbarkeit voraus, die sie von den Punks nicht mehr zu erwarten hatten.

Zuviel Zukunft hieß für sie keine Zukunft. Der zunächst ziellose, popinspirierte und unbekümmerte Ausbruchsversuch junger Leute führte zum Abbruch jeder Identifikation mit ihrer Heimat und somit zum Umbruch in ihren Biografien. Im schrillen Treiben der Punkszene fanden sie eine Heimat, die ihnen die DDR nicht mehr zu bieten hatte. So waren sie innerhalb der Republik republikflüchtig und in Grenzen frei.

Punks im "real existierenden Sozialismus" mußten irreal und befremdlich wirken, in einem Sozialismus, der, abgeschottet von der Welt, nichts Fremdes kannte. Durch ihre bizarre Erscheinung im bunten Grau des Ostens, überdreht und unberechenbar, forderten 16- bis 18jährige einen Staat heraus, der in seiner Kontrollwut am Ende völlig überfordert war. In seiner Wut auf die Wut der Jungen ließ der Staat einige unter ihnen mit extremen Biografien zurück. Das schließt nicht nur die Opfer der DDR-Diktatur ein, sondern z.B. auch 17jährige, die sich, von der Brisanz der Situation völlig überfordert, in den Dienst der Staatssicherheit pressen oder zu Spitzeldiensten verführen ließen.

Punk in der DDR gewann durch die Nachstellungen eines Disziplinarregimes eine ungeahnt brisante und gesellschaftsrelevante Dimension und Bedeutung. Die Punks im Osten schrieben ein bewegtes Kapitel der zähen DDR-Geschichte, grell durch die libertäre Überspanntheit ihres Treibens, finster durch das Ausmaß ihrer Verfolgung, wie sie zuvor auf keine Jugendbewegung angewandt wurde. Sie haben sicher nicht den Zusammenbruch des Kulissenstaates DDR herbeigeführt. Doch sie trugen bei zu einer nervösen Balance des Systems, die 1989 nicht mehr zu halten war.

too much future versteht sich als eine Art Antriebswelle von Initiativen, die sich mit Subkultur, speziell mit Punk und seinen Folgen, in der DDR beschäftigen. Da die Aktivitäten derer, die in der DDR gegenkulturell involviert waren, nicht im November 1989 ihr jähes Ende fanden, reichen diese Folgen natürlich auch über den Grenzpunkt Null hinaus. Für viele der Szene-Aktivisten glich die Zeit als Punk eher einem Transitraum. Ihre Biografien erfuhren, nach ihrer Ausreise oder mit dem DDR-Infarkt, keinen Abbruch, sondern eine Fortführung in nicht selten sehr verschiedene Richtungen und Lebensweisen. Sie nahmen Punk als Intensivkurs mit, um woanders anzukommen.

Ob in Buchform, in Ausstellungen oder als Thema eines Films: Ziel aller Erinnerungsschübe ist es auch, diese Biografien nicht als tote Briefkästen zu nutzen, in denen sich Geschichte ablagert. Das setzt den Anspruch voraus, die Spätfolgen von DDR-Subkultur bis in die Gegenwart fortzuschreiben, gerade wenn diese inzwischen von ihrer Entstehungsgeschichte weitgehend losgelöst existieren. Denn sie bestehen durchaus, auch in den Jahren nach der Wende von einer Unfreiheit zu einer totalen Freiheit, die nicht selten einer freiheitlichen Totalität des Westens entspricht.

* Auf den polizeilichen Vorladungen zu Vernehmungen von Punks oder überhaupt von Abweichlern wurde als Grund immer "zur Klärung eines Sachverhalts" angegeben.