An einem Sonntagabend im Frühsommer 1977 ahnten zwei junge Eislebener nicht, wie eine Sendung von Radio Tele Luxemburg ihr Leben verändern sollte. Harty Sachse, später als Steve Aktiv die Stimme von Müllstation, und Wolfi hätten dem MfS als Paradebeispiel für den Erfolg der gezielten „Zersetzung und Aufweichung der Bürger der DDR“ dienen können. Eine Stunde Beschallung mit Punkrock reichte aus. Glamrock war gestern. Was hinter der ganzen Geschichte stand, spielte keine Rolle. Wie man als Punkrockfan aussehen müßte war auch unklar. Die „Bravo“ lieferte wenig später die optische Vorlage ins Mansfelder Land.

Auch nach Halle fand Punk den Weg übers Radio. Die obligatorischen vier Buchstaben prangten bald darauf auf hellen Socken, welche in Jesuslatschen steckten. Punk war noch eine Musikwelle, wie es sie vorher schon viele Male gab. Einige von der ersten Hallenser Punk-Generation verstanden sich wenig später als New Romantics. Die nachhaltiger Faszinierten konzentrierten sich weiter aufs Sammeln von Informationen und vor allem von Musik. Einher ging die schrittweise Veränderung von Frisuren und Kleidung. 1979 wuchs die Punkpopulation in Halle laut Zählungen des MfS auf 25 Exemplare an, die regelmäßig im „Paddlerheim“ gastierten.

In Eisleben probte die erste Punkband: Topfdeckel-Kuchenblechschlagzeug, Waschbrett, Wanderklampfe ersetzten das fehlende Equipment der Saxers , aus denen 1980 Müllstation (Steve Aktiv, Rialdo, Rolfo) hervorging. Es entstanden die ersten Kontakte zur Szene in Halle. Hier war es 1982 der Stasi gelungen, einen Informanten in der Punkgruppe zu gewinnen. Das MfS beschäftigte sich zu dieser Zeit mit dem Sammeln von Fakten, Interventionen blieben noch aus.

Beeindruckt vom Zwitschermaschine -Auftritt in Berlin 1981 gründete Moritz Götze nach der Auflösung der Giebichensteiner Rockknaben die Band Größenwahn. Diese trat das erste Mal in größerem Rahmen Ende 1981 in Halles Pauluskirche auf. Am 19. Juni 1982, zum 7. Werkstatt-Treffen der Jungen Gemeinde Halle-Neustadt, spielten zum ersten Mal Punkbands aus verschiedenen Städten der DDR in Halles Lutherkirche. Wutanfall , Schleimkeim und Größenwahn ließen in Halle das erste Mal viele Punks zusammenkommen. Die meisten der zur „Session“ anreisenden Punks kamen aus Berlin und verwiesen die Hallenser auf die hinteren Plätze der „Wer-sieht-am-schärfsten-aus“-Charts.

Die Dessauer Punks knüpften viele ihrer ü berregionalen Kontakte über die Junge Gemeinde in Roßlau. Dort lernte man auch die Leute aus Magdeburg kennen. In Dessau direkt existierte als wichtigster Treffpunkt das „Maja“, eine Disko im Majakowski-Haus. Sonst traf man sich im Stadtpark, an der Würstchenbude bei Magda, auf dem Rummel oder zog sich zu Seilers, einer mit Bänken versehenen Familiengrabanlage auf dem Friedhof 3, zurück. Ab 1983 fing die Dessauer Punkgemeinschaft an zu wachsen., mischte sich aber konsequent mit anderen, die aus dem verordneten Rahmen fielen: Punks, Metaller, Break-Dancer, die Shell-Parka-Fraktion oder auch Knastis hingen gemeinsam an den Treffpunkten rum.

In Halles Offener Arbeit stellten die Jugendlichen oft nicht nur Gemeinsamkeiten fest, sondern pflegten die Abgrenzung nach musikalischen Interessen und den damit verbundenen Vorlieben beim Anziehen und Frisieren. Die Punks, die durch ihre Selbstinszenierungen auf der „Beliebtheitsskala“ vieler anderer OA-Besucher weit unten eingestuft waren, verspotteten ihrerseits viele der Angebote der evangelischen Jugendarbeit als „Basteln & Kneten“. Im Oktober 1982 zog die von Jugendpfarrer Siegfried Neher betreute Offene Arbeit in die Christuskirche ein. Neher hatte schon eine Weile mit Punks zu tun, als Anfang Februar 1983 Frank Noack und Holger Weise mit einer Idee bei ihm vorsprachen. Man plante in Halle ein Punkkonzert mit Bands aus Halle, Leipzig, Dresden und Berlin. Dies war dem MfS seit spätestens dem 11. Februar 1983 bekannt. Moritz Götze organisierte die Veranstaltung. Den Kontakt zu vielen Bands vermittelte Jana Schloßer. Sie war inzwischen von Halle nach Berlin gezogen und sang dort bei Namenlos .

Am 30. April 1983 war es dann soweit. Das erste DDR-weite Punktreffen begann offiziell gegen 16 Uhr. Die Leute waren ab dem frühen Nachmittag grüppchenweise auf das Kirchengelände in der Freiimfelder Str. gelangt. Größenwahn , Namenlos , Wutanfall , Restbestand, H.A.U. (die späteren L'Attentat) und Planlos rockten in der Christuskirche. Teilweise beendete man Auftritte durch das Ziehen der Stecker, wenn die Bands nicht zum Ende kommen wollten. Die „ganz harten“ Punks warfen Kleingeld auf die Bühne, um die ihrer Meinung nach zu künstlerisch daherkommenden Größenwahn zum Verlassen der Bühne zu bewegen. „Wer is hier Punk?“ war die alles auf den Punkt bringende Frage.

Die nächste Veranstaltung – geplant am 22.10.1983 – sollte mit erwarteten 500 Besuchern noch größer werden. Waren die Staatsorgane bei der Veranstaltung sieben Monate zuvor nur Zuschauer, durfte sich nach deren Vorstellungen eine derartige Zusammenkunft nicht wiederholen. Detailliert plante die Stasi die Aktion „Dekadenz“ in einer extra dafür ins Leben gerufenen Einsatzgruppe. Der Maßnahmenmix sah vor, Probst Abel und Pfarrer Neher im Vorfeld zur Absage der Veranstaltung zu bewegen. Die Kriminalpolizei lud unterdessen alle ihr namentlich bekannten Punks aus Halle und Halle-Neustadt vor oder holte sie gleich selbst ab. Alle bekamen die Auflage, der kriminellen Veranstaltung fernzubleiben. In Telegrammen bat man die Behörden anderer Städte, die ihnen bekannten Punkbands an der Anreise nach Halle zu hindern. Die mit viel Aufwand betriebenen Verhinderungsaktionen trugen Früchte. Etwa 70 Leute schafften es bis in die Christuskirche.

Wie in der ganzen Republik dünnte man auch im Bezirk Halle Opposition und Subkultur Anfang 1984 durch die kurzzeitige Freizügigkeit im Umgang mit Ausreiseanträgen und Einberufungen zur NVA aus. Die Szenen entwickelten ihre regionalen Besonderheiten und differenzierten sich aus. Die Veranstaltungen in Halles Christuskirche stießen inzwischen auch bei Leuten aus einem gewissen zahnärmeren Milieu auf Interesse. Für einige der neu dazustoßenden Punks lag der Reiz eher in der Mixtur aus Alkohol und Abenteuer, als an der bewußten persönlichen Verweigerung. Ansonsten galt nach wie vor „Alarmstufe Rot“ bei sich nähernden alkoholisierten Assis und Ansammlungen von Fußballfans. 1984 veranstalteten die „normalen“ Eislebener Wiesenmarktbesucher eine Hatz auf Punks. Trotzdem trafen sich im September 1985 erneut über 100 Punks aus der ganzen Republik beim Fest, was die Polizei im Jahr darauf verhinderte. In Halle fungierten alljährlich das Pressefest der Zeitung „Freiheit“, das Pfingstzelten am Königssee und auch das Petersbergtreffen als Punk- und Freak-Magnet. Ende 1984 gehörten Skinheads zum Repertoire der Halleschen Jugendkulturen. Man besuchte dieselben Veranstaltungen, denn die später üblichen Konflikte gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Als 1985 Stasiinterventionen bei der Kirchenleitung scheiterten, begann ein Wandel im staatlichen Umgang mit Punkkonzerten in der Kirche. 1986 öffnete das Christuscafé und wurde zum wichtigsten Anlaufpunkt. In diesem Jahr tauchte eine neue Gruppe Punks in Halle auf, die sich auf dem Marktplatz, direkt am Händeldenkmal traf: die sogenannten Händelpunks. Auf Seiten der älteren Generation tat man sich anfangs schwer, diese Leute zu akzeptieren. Der Sitz auf dem höheren Roß stabilisierte und sicherte die Gruppe der Älteren und hielt sogenannte Popper fern. Andererseits existierte eine Hierarchie und die unterschied klar zwischen Etablierten und neuen Leuten aus Halle. Im Umgang mit Auswärtigen war man viel offener.

Neben den stark auf Punk Fixierten, existierte in Halle eine rege, produktive Kunstszene, deren Motor oft im Umfeld des „Objekt 5“ zu finden war. In diesem wohnte, feierte und probte man schon seit den siebziger Jahren. Ab Mitte der achtziger Jahre konnte man auch dort verstärkt Punkeinflüsse wahrnehmen. Ende 1987 eröffnete in der Berliner Galerie „Schaufenster“ eine Ausstellung von Moritz Götze. Die extra zur Eröffnung aus dem Proberaum im Objekt 5 hervorgezauberten Letzten Recken (Jan Möser, Robert Hieber †, Markus Staufenberg †) traten dort das erste Mal zusammen mit Baader auf. Die nach diesem Konzert am Leben gehaltene Band verstärkten Baader und Moritz Götze gelegentlich bei ihren Auftritten. Die von Peter Winzer und Matthias „Baader“ Holst † ab 1985 herausgegebene, eigentlich nie genehmigte Literatur- und Kunstzeitschrift „Galeere“ verbot man ein Jahr später nach drei Ausgaben.

Im November 1986 endete in Halle das Miteinander von Punks und Skins schlagartig. Bisher taten sich einige der nach rechts abdriftenden Glatzen „nur“ mit Lobeshymnen auf ihr deutsches Vaterland und den dazugehörigen Gewaltphantasien hervor. Nach einer gemeinsam besuchten Tanzveranstaltung in der „Grünen Tanne“ in Lieskau lauerten vier von ihnen einem sich auf dem Heimweg befindenden Punk auf und schlugen ihn krankenhausreif. 1987 griffen Skinheads die Christuskirche mit Buttersäure an, waren aber auch unter den Besuchern bei Konzerten. Die Anwesenheit von Berliner Punks mit dem Kürzel ANL (Anti Nazi Liga) auf der Jacke wirkte beruhigend und deeskalierend. Bis Mitte 1988 gab es noch das spannungsgeladene Nebeneinander. Alte Freundschaften, gemeinsame Bekannte und einige, die sich in dieser Situation nicht festlegen konnten oder wollten, machten für viele eine klare Abgrenzung schwer. Endgültig eskalierte die Situation dann bei einer Geburtstagsparty in Merseburg, auf der Skins und Punks heftig aneinander gerieten. Die merkwürdigerweise um die Ecke im LO bereitstehende Polizei schritt sofort ein. Sissi ging danach für ein halbes Jahr in den Knast, weil sie einem Bullen ins Gemächt trat. Dies war nicht die erste folgenschwere Auseinandersetzung mit den Vopos. Schon ein dreiviertel Jahr zuvor, am Tag der Republik, fuhren Elke, Geralf und Klaus für sechs Monate ein.

1987 riefen die Dessauer Maxe, Peggy und Schoppe mit Shanghai, der nach seiner Haftentlassung kurze Zeit bei Müllstation mitwirkte, die Band Anti-X ins Leben. Leute aus der Dessauer Szene nahmen, ihrer Vorliebe für adrettere Kleidung geschuldet, den Weg über New Wave in Richtung Depeche Mode und Grufti. Sie entwickelten sich weiter und wurden zu Skins. Nur vergaß man in Dessau nie die viele verschiedene Freaks integrierende Szene. Das verhinderte den Rechtsruck, der in vielen anderen Städten zu verzeichnen war, und sorgte weiterhin für den gewohnten Umgang untereinander. In Eisleben schrumpfte die alte Punkclique gegen Ende der achtziger Jahre auf eine handvoll Leute. Müllstation probten längst in der Christus in Halle. Mit der einsetzenden vordergründigen Akzeptanz der DDR-Staatsorgane wuchs die Anzahl derer, die sich für Punkrock interessierten. Die alten Punks wollten mit den Fans der erlaubten und teilweise geförderten „anderen Bands“ nichts zu tun haben.

1988 lud man in die Christuskirche zum 2. Kirchentag von Unten. Aus der ganzen Republik reisten Oppositionelle zum Diskutieren und Informieren an. Unter ihnen viele Punks. Aber auch die seit geraumer Zeit regen Zulauf erfahrenden Gruftis tauchten in der Christus auf. Natürlich durften die Kultur und insbesondere die Auftritte von Punkbands nicht fehlen. Aus der gegenüberliegenden Schule fotografierte die Stasi das bunte Treiben auf dem Kirchengelände. Die Nazis, die kurz auftauchten, bemerkten ein zu ihren Ungunsten existierendes Kräfteverhältnis und verschwanden wieder. Provokationen und versuchte Schlägereien hatten ihren Ursprung in den umliegenden Kneipen.

Nach einem Besuch des Gastwirtes Meier Hans, der für Humor und Toleranz in Szenekreisen hoch geschätzt war, beschlossen Bessy, Alex und Alf im Sommer 1988 eine Punkband auf die Beine zu stellen. Die Band Kistenverklapserdienst (Alex, Alf, Bessy, Lischka) durfte zusammen mit der gleichzeitig gegründeten Frauenpunkband Rote Zora (Susi B. Uli, Ute, Dana) kurz darauf den Proberaum von Müllstation im Christuskeller mitnutzen. Diesen hat die Rote Zora nie verlassen. Nach einigen Partyauftritten sah man K.V.D. das erste Mal in größerem Rahmen zusammen mit Müllstation bei einem Benefizkonzert für Dresdener Punks am 30. Januar 1989. Etwa zu dieser Zeit formierte sich aus dem Umfeld des Jugendklubs „Lampe“ die Band Erledigt (Ralle, Lotte, Mohr). Pfarrer Bartel stellte in der Diakonischen Begegnungsstätte (DBS) einen Proberaum zur Verfügung, den auch die Gossenbonzen (Basti, Sonni, Flicki) nutzten

 

Mark M. Westhusen